Es war einmal ein Dorfanger. Der war schon sehr alt. Viele Jahre
kümmerte sich niemand um ihn. Er verfiel. Ja, man dachte ernsthaft
darüber nach, ihn einfach wegzureißen, neu in Plattenbauweise
zu errichten und eine große Straße hindurch zu führen.
Dazu kam es nicht. Untersuchungen von Architekturstudenten der TU
Dresden Ende der 80er Jahre hatten ergeben, dass es sich lohnt,
den Anger zu sanieren. Wer aber sollte das bezahlen? So schlummerte
Altkötzschenbroda im Dornröschenschlaf vor
sich hin und wartete auf seinen Prinzen.
Dann kam die Wende. Der arme Anger räkelte seine morschen und
eingerosteten Glieder und spürte allzu sehr sein Alter in den
Knochen und sprach: Hurra! Jetzt bin ich frei. Auf in eine
neue Zeit! Und die Leute vom Anger begannen sich zu fragen:
Wie sollen wir loslegen? Jedes Auto fährt nur mit Benzin.
Unser Tank ist aber leer. Was wird aus unserem vertrauten Dorf und
seinen Leuten, die wir alle kennen?
Auch die KLEINE GALERIE war auf den Anger aufmerksam geworden und
meinte: Altkötzschenbroda ist schön, auch mit Furchen
und Runzeln im Gesicht, denn nur wer keine Geschichte hat, hat ein
glattes Gesicht. Und sie veranstaltete eine Ausstellung unter
dem Thema Altkötzschenbroda im Abriss!? - mit Ausrufezeichen
und mit Fragezeichen! Eine Theaterkulisse wurde zur restaurierten
Fassade des Auszugshauses des Hofes Nr. 21. Damit sollte eine Illusion
geweckt werden. Weiterhin sprach man im Kulturamt: Lasst uns
den Anger wieder beleben mit einem Fest und wenigstens an einem
Wochenende im Jahr zeigen, wie schön Altkötzschenbroda
sein kann, wenn es sich schmückt und bevölkert wird mit
vielen Gästen! Dann werden alle Mut fassen und wirklich loslegen.
Und so geschah es. Als Termin wurde der des Kirchweihfestes gewählt.
Das 1. Herbst- und Weinfest vom 27. bis 29. September 1991 war geboren.
Die Freitag-Eröffnung begann mit weniger als 200 Besuchern.
Die Winzer waren gerade bei der Ernte, und nur wenige sahen im Weinfest
schon ihre Chance. Aber der Samstag und noch mehr der Sonntag konnten
sich mit zehntausend Besuchern schon sehen lassen. Zur Überraschung
aller öffneten einige Höfe und mit Schwarzes Tonne
der erste Weinkeller. Es ging das Gerücht, Altkötzschenbroda
hätte eine Unterwelt, schließlich wären viele frühere
Bauern auch Weinbergsbesitzer gewesen. 1992 waren es schon fünf
Keller, die von den Besuchern bestaunt werden konnten. Und jedes
Jahr wurden es mehr. Es begann die Sitte, die schönsten Häuser
und Höfe auszuzeichnen. Mehrfach trug der Hof von Karl Reiche
den Sieg davon.
1992 wurde Altkötzschenbroda zum Sanierungsgebiet erklärt.
Lange war den meisten Betroffenen unklar, ob sie sich durch diese
Sonderstellung beglückt fühlen sollen.
Eine Bürgerinitiative stellte klar, dass eine Sanierung vor
allem zusammen mit den Bewohnern erfolgen muss. Zögernd begann
die Erneuerung des Alten am Anger. Die Stadt hatte zunächst
exemplarisch das Auszugshaus der Nr. 21 in Stand gesetzt. Und: Zum
Erfolg gehört auch Glück. Ein Investor aus München
hatte sich während eines Festes in diesen Ort verliebt und
nahm das Risiko auf sich, in Altkötzschenbroda erheblich zu
investieren. Als Architekten wählte er einen Radebeuler, dessen
Experimentierfreude sich auszahlte. Farbe und moderne Architektur
kamen auf den Anger. Zwischen den Architekten begann ein regelrechter
Wettbewerb. Der Goldene Anker entstand in neuer Pracht
und erweiterter Funktion. Der Kirchvorplatz wurde 1995 neu gestaltet,
die Oberschänke restauriert. 1997 zog die Stadt mit und präsentierte
das sanierte Grundstück Nr. 21 als Kulturschmiede
mit integrierter Stadtgalerie. Inzwischen sind Architekturführungen
sehr gefragt. Eine Flaniermeile ist im Entstehen. Eine Szene-Kneipe
nach der anderen öffnet ihre Pforten. Der zunehmend frequentierte
Elbradweg tut sein Übriges. Einer der wesentlichen Anziehungspunkte
für die Besucher der weiteren Herbst- und Weinfeste wurde der
Sanierungsfortschritt. Die Anteilnahme der Besucher reicht bis in
den letzten privaten Winkel. Es wurde Brauch, die Termine für
Geschäftseröffnungen und Gebäudefertigstellungen
auf die der Herbst- und Weinfeste zu legen. Wann hat man je mehr
Besucher und Gäste?
Schon von Anfang an feierte man nicht nur ein einfaches Weinfest
mit Essen, Trinken und Musi. Die kulturelle Prägung
war von Anfang an das Bedürfnis der Macher und lockte damit
ein interessiertes Publikum an. Zum 93er Fest wurde der Kirchvorplatz
von einem Mittelaltermarkt belebt, der gerade hier hinzupassen schien.
Seit 1994 sind auf dem Kirchvorplatz die Weinerzeuger der Sächsischen
Weinstraße präsent, auf keinem anderen Weinfest so vollständig
vertreten wie hier. 1995 beging Kötzschenbroda den 350. Jahrestag
des Waffenstillstandes zwischen Sachsen und Schweden, der drei Jahre
vor dem Westfälischen Frieden im Pfarrhaus geschlossen worden
war. Das Herbst- und Weinfest bildete den Abschluss der Friedensfestwoche.
Die fremdartigen Theater in den Höfen, die skurrilen Gestalten
auf der Straße, auf den Bühnen und den Streuobstwiesen
sind zu den selbstverständlichen Bestandteilen des Festes geworden.
1996 erfolgte der Qualitätssprung zum Internationalen
Wandertheaterfestival mit Wanderpreisverleihung. Das Publikum
ermittelt den Preisträger. Mehr als 14 Theatergruppen aus acht
Ländern bevölkern die verschiedenen Plätze. In der
Wander- und Straßentheaterszene Europas ist Kötzschenbroda
zu einer festen Adresse geworden.
Der Einzug der Weinmajestäten mit dem bunten Gauklervolk bildet
den grandiosen Auftakt des Festwochenendes. Die Winzerkirmes auf
dem Kirchvorplatz und die Kinderkirmes auf den Streuobstwiesen gehören
zu den Konstanten. Die Lange Theaternacht am Samstag Abend wird
jeweils durch eine spektakuläre Großinszenierung gekrönt.
Mit dem Auszug des Fahrenden Volkes und einem feurigen Abschlussspektakel
finden drei abwechslungsreiche Tage ihren würdigen Ausklang.
Das Fest lebt vor allem durch die Mitwirkung aller, die auf dem
Dorfanger ansässig sind. Ihre Ideen und Initiativen tragen
dazu bei, dass sich das Radebeuler Herbst- und Weinfest jedes Jahr
auf neue Weise präsentiert.
Inzwischen hat Altkötzschenbroda eine Eigendynamik erfahren,
die man allen anderen Ortsteilen auch nur wünschen kann. Die
Bewohner haben losgelegt. Nun gilt es, sich freudig
an diesem Beispiel zu orientieren und trotzdem seinen eigenen Stil
und Weg zu finden. Die Feste in Naundorf und Wahnsdorf haben den
Beweis bereits angetreten.
Dr. Dieter Schubert
|